2010-02-02 13:09
es ging ihm besser als du nicht da warst

als du das letzte aller male gegangen bist hat das – wie üblich – ein loch in sein leben gerissen. danach konnte man mit ihm weniger als je zuvor anfangen. eine lange zeit. er saß einfach nur noch da und leise verließen frühlingsflüsse seine augen. er aß nicht, er nahm nicht einmal drogen, wie er dies früher immer getan hatte. die ärzte zu denen wir ihn brachten – er völlig willenlos – meinten es ginge ihm gut. er hätte zwar die werte eines einschlafenden oder eines meditierenden, jedoch nichts bedenkliches. einer nach dem anderen, dieselbe diagnose. also ließen wir ihn sitzen, brachten ihm essen. legten ihn manches mal in sein bett, obgleich er nie schlief, sofern wir das sahen.
eine lange zeit sah es so aus, als ob er tatsächlich endlich kapituliert hätte. nach all den malen zuvor, in denen er nie ganz aufgegeben hatte. und du immer zurückgekehrt bist. er schien dies gewußt zu haben. doch dieses mal war es anders, du weißt es. und er wußte es. als du das letzte mal gingst, war es um nicht wiederzukommen. etwas wovor er sich euer leben lang gefürchtet hatte.
nach einiger zeit, in der sich sein physisiches erscheinungsbild drastisch verändert, hatte er als ich ihn wusch vom boden aufgeblickt und mir in die augen gesehen. ganz bewusst sah er mich an und weinte nicht mehr leise. seine tränen durchdrangen meinen pullover und rannen an meinem rücken hinab, seine schreie ließen die nachbarn tagelang nicht schlafen und brachten uns sogar eine polizeiliche anzeige ein. aber er wurde wieder lebendig, dafür nahmen wir alles in kauf. er verlangte eigenständig nach wasser und knabberte an den von uns angebotenen speisen. langsam kehrte leben in ihn zurück und die tränen liefen in sich beugende mundwinkel.
inzwischen schreibt er wieder, wir sehen uns so zweimal die woche und gehen mit den enkeln spazieren. er wirft und fängt sie auf wie einer junger vater. einmal ist er mit ihnen sogar auf einen baum geklettert. er lacht und manchmal erzählt er uns aus eurem leben, tränen in den augen, ein lachen auf den lippen. keine reue in seinen worten. und für die kinder ist es gar oft so als ob du noch da wärst, wie mir leni gestern vor dem einschlafen erzählte. er kauft wieder ein und geht mit alten freunden immer mal ein bierchen trinken, wie ich hörte. kurz, er ist wieder stabil, ja es geht ihm sogar gut.
ich schreibe dir, mutter, weil ich deine anwesenheit spüre. ich weiß nicht, ob er dich schon sieht. sei an seiner seite, wenn du es bis zum ende sein kannst, dieses mal. doch wenn nicht, bitte, warte auf ihn wo immer der punkt eures bestimmten wiedersehens ist und laß ihm den frieden eines ausklingenden lebens. es ging ihm soviel besser als er dich das letzte mal gehen ließ.

[tonspur: "a fine day to exit" by anathema]

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